Europäischer Gerichtshof entscheidet zu Kündigungsfristen

Europäische Gerichtshof, Urteil vom 19.01.2010

von Rechtsanwalt Markus Bär, Fachanwalt für Arbeitsrecht
Arbeitsrecht für Arbeitnehmer und Betriebsräte

Alle im Arbeitsverhältnis zurückgelegten Beschäftigungszeiten sind bei der Berechnung der Kündigungsfrist zu berücksichtigen

Mit Urteil vom 19.01.2010 hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Regelung in § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, wonach vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitnehmers bei der Berechnung der Kündigungsfrist nicht berücksichtigt werden, gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.

Hierin liegt eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters. Die Vorschrift ist von deutschen Gerichten auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet zu lassen.

Die bisherige Rechtslage

§ 622 BGB regelt die Kündigungsfristen bei Arbeitsverhältnissen. Die sogenannte Grundkündigungsfrist ist in § 622 Abs. 1 BGB normiert. Hiernach kann das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers mit einer Frist von vier Wochen zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden. Sodann legt § 622 Abs. 2 BGB die verlängerten Kündigungsfristen fest. Hat ein Arbeitsverhältnis in dem Betrieb oder Unternehmen zwei Jahre bestanden, so beträgt die Kündigungsfrist einen Monat zum Ende eines Kalendermonats. Die gesetzlichen Fristen verlängern sich auf bis zu sieben Monate bei einer Betriebszugehörigkeit von 20 Jahren. Hierbei bestimmt § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB jedoch, dass bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer Zeiten, die vor der Vollendung des 25. Lebensjahres des Arbeitnehmers liegen, nicht berücksichtigt werden bei der Berechnung der Kündigungsfrist. Wurde ein Arbeitsverhältnis zum Beispiel mit dem 17. Lebensjahr begonnen und erhält der Arbeitnehmer schließlich eine Kündigung mit Vollendung seines 26. Lebensjahres, so wurde nach bisheriger Rechts- und Gesetzeslage nur eine Betriebszugehörigkeit von einem Jahr angenommen, da die Beschäftigungszeiten vor der Vollendung des 25. Lebensjahres nicht zu berücksichtigen waren. Dementsprechend konnte das Arbeitsverhältnis zu Lasten des Arbeitnehmers gemäß § 622 Abs. 1 BGB mit einer Frist von vier Wochen zum 15. oder zum Ende eines Kalendermonats gekündigt werden. Bei Berücksichtigung der vollen Betriebszugehörigkeit ab dem 17. Lebensjahr ist jedoch eine Beschäftigungsdauer von mehr als acht Jahren zu berücksichtigen mit der Folge, dass gemäß § 622 Abs. 2 Nr. 3 BGB die gesetzliche Kündigungsfrist drei Monate zum Ende eines Kalendermonats beträgt. Dieselbe Betriebszugehörigkeit führt somit gemäß § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB je nach dem Alter des Arbeitnehmers zu verschieden langen Kündigungsfristen, wobei die jüngeren Arbeitnehmer vom Gesetz schlechter behandelt werden als die älteren. In der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur ist daher seit längerer Zeit die vorherrschende Meinung, dass die gesetzliche Ausklammerung von Beschäftigungszeiten, die vor dem 25. Lebensjahr zurückgelegt wurden, eine europarechtlich unzulässige Diskriminierung wegen des Alters darstellt. Die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf verbietet nämlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern wegen des Alters, unabhängig davon, ob ältere gegenüber jüngeren oder aber jüngere gegenüber älteren Arbeitnehmern diskriminiert werden (Art. 1 und Art. 2 Absatz 2 der Richtlinie 2000/78/EG).

Der Fall – was war passiert?

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Kücükeveci, war seit ihrem 18. Lebensjahr bei dem Beklagten beschäftigt. Zehn Jahre später kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einer Frist von einem Monat. Mit ihrer hiergegen gerichteten Klage machte die Klägerin geltend, dass für die Berechnung der Kündigungsfrist entgegen § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch die vor Vollendung ihres 25. Lebensjahres liegenden Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen seien. Daher gelte gemäß § 622 Abs. 2 Nr. 4 BGB eine Kündigungsfrist von vier Monaten zum Ende eines Kalendermonats. Das als Berufungsgericht mit der Sache befasste Landesarbeitsgericht Düsseldorf setzte das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei und welche Folgen sich aus einer etwaigen Unvereinbarkeit ergäben.

Wie hat der Europäische Gerichtshof entschieden?

Der Europäische Gerichtshof beurteilte die Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB als gemeinschaftsrechtswidrig. § 622 Abs. 2 BGB verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters in seiner Konkretisierung durch die Richtlinie 2000/78. Indem vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten bei den nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelten Kündigungsfristen nicht berücksichtigt werden, werden in jungen Jahren in einen Betrieb eingetretene Arbeitnehmer gegenüber anderen Arbeitnehmergruppen benachteiligt. Die Richtlinie 2000/78 erlaubt zwar unter bestimmten Voraussetzungen eine Ungleichbehandlung wegen des Alters, u.a. wenn diese durch ein legitimes Ziel aus dem Bereich Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Zieles angemessen und erforderlich sind. Diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt. Dies begründet der Europäische Gerichtshof im Wesentlichen damit, dass der Zweck des § 622 Abs. 2 BGB darin bestehe, den Schutz der Arbeitnehmer entsprechend der Dauer der Betriebszugehörigkeit zu verstärken. Dieser Schutz werde jedoch nicht konsequent umgesetzt, da die an sich gewollte Verlängerung der Kündigungsfristen entsprechend der Beschäftigungsdauer für Arbeitnehmer unter 25 Jahren – zweckwidrig – ausgeschlossen ist. Außerdem werden nach Ansicht des Gerichtshofes Arbeitnehmer unter 25 Jahren schematisch gleich und damit sachwidrig behandelt, da der Ausschluss von einer Verlängerung der Kündigungsfristen für alle unter 25 jährigen Arbeitnehmer gilt, d.h. unabhängig davon gilt, wie alt sie zum Zeitpunkt ihrer Entlassung sind. Die Folge der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Regelung des § 622 Abs. 2 BGB ist, dass die deutschen Gerichte in einem Rechtsstreit zwischen Privaten diese Regelung nicht mehr anzuwenden haben.

Auswirkungen auf die Praxis für Arbeitnehmer

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 19.01.2010 war eine bereits lang erwartete Entscheidung. Sie ist zu begrüßen, da sie nunmehr in der Praxis dazu führen wird, dass sämtliche Beschäftigungszeiten des Arbeitsverhältnisses bei der Berechnung der Kündigungsfrist zählen und damit die bisher bestehende Diskriminierung von Arbeitnehmern vor der Vollendung ihres 25. Lebensjahres aufgehoben wird. Die Entscheidung steht auch im Einklang mit dem Verbot der Altersdiskriminierung seit dem Inkrafttreten des allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) am 18.08.2006 als Teil des Deutschen Gesetzesrechts. Festzuhalten bleibt, dass eine unterschiedliche Behandlung von Arbeitnehmern aufgrund ihres Alters nur dann zulässig ist, wenn hierfür nachgewiesene sachliche Differenzierungsgründe bestehen. Mit § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB sollte den Arbeitgebern im Hinblick auf jüngere Arbeitnehmer, denen eine größere berufliche und persönliche Mobilität zuzumuten sei, eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität verschafft werden. Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes stellt die Vorschrift jedoch keine angemessene Maßnahme zur Erreichung des vorgenannten grundsätzlich legitimen Zieles dar. Denn die Regelung des § 622 Abs. 2 BGB gilt unabhängig davon, wie alt der vor Vollendung des 25. Lebensjahres in dem Betrieb eingetretene Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Kündigung ist, und kann damit auch ältere Arbeitnehmer betreffen. Die nunmehr durch den Europäischen Gerichtshof getroffene Entscheidung zu § 622 Abs. 2 BGB wird nicht nur von den deutschen Gerichten und Arbeitgebern zu beachten sein, sondern auch von den Tarifvertragsparteien. In zahlreichen Tarifverträgen ist nämlich die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB in die Tarifverträge übernommen worden. Die Tarifvertragsparteien werden daher in Zukunft eine entsprechende Anpassung der Tarifverträge an die geänderte Rechtsprechung vornehmen müssen.

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